Ein Gefäss der Willkür zu frönen
Schweizer Musikzeitung
Simon Bittermann, 15. Dezember 2020
Mit «Rezital» verleiht der Pianist und Komponist Werner Bärtschi dem Zürcher Konzertleben seit 40 Jahren neue Impulse. EinTelefonat und ein Konzertbesuch machen klar, warum die Konzertreihe so langlebig ist.
40 Jahre Rezital Konzerte
Vor vierzig Jahren, am 29. Oktober 1980, fand das erste Rezital in der Tonhalle Zürich statt. In’s Programmheft schrieb Werner Bärtschi damals: «Eine Konzertreihe zu spielen, scheint mir etwas anderes zu sein, als einzelne Konzerte zu geben. Zählt beim einzelnen Konzert ausschliesslich der gelungene Augenblick, die Kommunikation zwischen Spieler und Hörerschaft an dem einen Abend, so ist demgegenüber eine Reihe in ihrer Kontinuität auch noch mit einem fortgesetzten Gedankenaustausch zu vergleichen. Sie zu programmieren, ist nicht nur die Vorbereitung einer Folge möglichst anregender Begegnungen, sondern gleicht eher einem Freundschaftsangebot, das mehr als nur die gebotenen Konzerte umfasst.»
30 Jahre Rezital Konzerte
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Was macht eine Stadt wie Zürich aus? Warum rühmt sich Zürich zu Recht eines grossartigen Kulturangebotes. Nein, meine Damen und Herren, es ist nicht einfach nur das Geld, es sind in erster Linie das Engagement und der Esprit von Menschen, die das Lebensgefühl einer Stadt ausmachen, Menschen wie zum Beispiel Werner Bärtschi.
„Man ist nicht realistisch, indem man keine Ideen hat“ dieser Satz von Max Frisch gefällt mir enorm, und ich denke, er lässt sich sehr gut auf das Rezital anwenden. Am Anfang jeder Entwicklung steht ein Mensch, der eine Idee hat. Ein Mensch, der bereit ist, sich zu exponieren und Risiko auf sich zu nehmen. Werner Bärtschi hat das vor dreissig Jahren gemacht. Er hatte die Idee, und er hatte die Energie, diese Idee Realität werden zu lassen. Und für diesen Schritt, die Realität-Werdung, braucht es wiederum Menschen, die bereit waren, sich zu engagieren. Im Projekt Rezital haben sich diese Menschen gefunden. Heute feiern wir, und wir dürfen uns dabei in Erinnerung rufen: Ja, gute Projekte haben eine Chance! Lassen wir uns von den Zweifeln und von den „Aber“ nicht entmutigen.
„Spontan, spannungsvoll und kommunikativ“ sind im Urteil der Fachkritik die Interpretationen von Werner Bärtschi. Und diese drei Faktoren haben die 30-jährige Erfolgsgeschichte von Rezital geprägt. Das Spontane garantiert den Konzerten ihre Lebendigkeit, ohne die zumindest die historischen Werke, die bei Rezital ja genau so oft programmiert werden wie die aktuelle Musik, zur musealen Angelegenheit werden können. Das Spannungsvolle ergibt sich gewissermassen von selbst durch die riesigen Spannungsbögen, die aus der Gegenüberstellung von historischen und zeitgenössischen Kompositionen oder bei der Konfrontation von ganz unterschiedlichen Stilen entstehen. Und weil man angespannte Situationen am besten kommunikativ bewältigt, erfolgt bei Rezital eine Kommunikation über die Zeiten und Stile hinweg, wobei sich das auf den ersten Blick ganz Fremde und weit Auseinanderliegende oft überraschend nahe kommt, so dass plötzlich Zusammenhänge und Verbindungen zu erkennen sind, von denen man bisher nichts geahnt hatte.
Auf diese Weise schafft Rezital eine ganz besondere Form der Musikvermittlung, und in einer erfrischend diskreten Art manifestiert sich hier auch ein pädagogischer Impetus, von dem eine ganze Reihe von inzwischen bekannten Schülerinnen und Schülern Werner Bärtschis im hohem Masse profitiert haben.
Das Erfolgsrezept scheint im Grunde einfach: Man nehme spontan ein paar spannungsvolle Programme und lasse die Werke miteinander kommunizieren. Natürlich steckt auch hier der Teufel im Detail, aber das ist nicht das wirkliche Problem. Entscheidend sind die Voraussetzungen, die es braucht, um das Rezept überhaupt anwenden zu können. Und auch hier sind es Eigenschaften, die im Zusammenhang mit dem Spiritus Rector von Rezital immer wieder genannt werden: Offenheit, Eigenständigkeit und vor allen Dingen Mut.
Es braucht Mut zu unkonventionellen Programmen, Mut zum Überschreiten von stilistischen Grenzen, Mut zum Ignorieren aller Mode- und Zeitströmungen. Es muss ja nicht immer Boulez sein – es darf bei Werner Bärtschi auch einmal Killmayer, Terry Riley oder Erik Satie sein. Und wer bei Bach immer gleich an Johann Sebastian denkt, kann bei Rezital durchaus falsch liegen: Carl Philipp Emmanuel ist Werner Bärtschis Publikum inzwischen fast ebenso geläufig. Und wer wagt es, einen „Van Horn Boogie“ von Steve Ingham direkt neben die „Diabelli-Variationen“ von Beethoven zu stellen? Sie kennen die Antwort.
Ungeachtet aller geschriebenen und vor allem auch aller ungeschriebenen Gesetze geht Werner Bärtschi – auch als Komponist – seinen Weg. Das Publikum folgt ihm auf diesem Weg schon sehr lange. Und zu meiner Freude darf ich sagen, dass auch die öffentliche Kulturförderung der Stadt Zürich sehr früh erkannt hat, dass es richtig ist, diesen Weg auch mit finanziellen Unterstützungen abzusichern. Es gehört ja zu den selbstverständlichen Aufgaben und Pflichten der Kulturförderung, den Mut zu Programmen, die nicht immer mehrheitsfähig sind, zu belohnen – allerdings nur dann, wenn auch die Qualität stimmt.
Dass diese stimmt, fand im Jahr 2007 auch der Stadtrat, der die projektbezogenen Unterstützungsbeiträge und Defizitgarantien in eine feste Subvention umwandelte. Er tat dies im Wissen darum, dass die Reihe Rezital auch insofern fest in Zürich verankert ist, als neben Weltstars wie dem Kronos-Quartett oder den Komponisten John Cage und Karlheinz Stockhausen, auch immer wieder Zürcher Musikerinnen und Musiker wie das Amar- oder das Carmina-Quartett, oder im Idealfall, wie heute Abend, Zürcher Weltstars wie Noemi Nadelmann und Pierre Favre auftreten, die beide die stilistische Offenheit von Rezital ideal verkörpern.
Was könnte ich also Werner Bärtschi und der Gesellschaft Rezital anderes wünschen, als weitere 30 Jahre Mut zur Eigenständigkeit, Offenheit, Farbigkeit und Freiheit bis hin zur provokativen Frechheit, die sich im Projekt Rezital so wunderbar kreativ vermischt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Tonhalle Zürich, 20. Februar 2011, Peter Haerle, Direktor Kulturamt der Stadt Zürich